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Kategorie: Texte
Veröffentlicht: Freitag, 27. April 2012 07:32
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Die h-Moll-Messe

Herausforderung und Anspruch

Einführungsreferat anlässlich der Aufführung des Werks am 13.05.2007 in Koblenz


Sehr geehrte Damen und Herren,

ich begrüße Sie herzlich zu dieser kleinen Einführungsveranstaltung, in der ich Ihnen einige Impulse zum Hören und Verstehen der h-Moll-Messe von J.S.Bach mitgeben möchte. Ich freue mich schon darauf, diesem Werk hier heute mit Ihnen zusammen begegnen zu können.

Wie Sie sicher wissen, hat Herr Andresen, der Leiter von Cappella Confluentes und Veranstalter der Reihe „Koblenzer Barockkonzerte“, die Praxis entwickelt, vor seinen Veranstaltungen eine kleine Einführung für das Publikum zu geben, um auf diese Weise einige Impulse zum Verständnis des Programms zu setzen. Bei einem Planungsgespräch im Februar dieses Jahres hat er nun mich gebeten, ihm vor der h-Moll-Messe diese Aufgabe abzunehmen, da Vorbereitung und Durchführung dieser Aufführung kaum Zeit und Muße lassen für diese Absicht.


Ich habe als Vorsitzender des vor gut einem Jahr gegründeten „Vereins der Freunde und Förderer – Alte Musik am Mittelrhein e.V.“, über den Sie im Bereich der Kasse Informationen finden können, diese Aufgabe im Prinzip gerne übernommen, da es unser gemeinsames Anliegen ist, den Gedanken einer bewusst historisch informierten Aufführungspraxis auf Originalinstrumenten (oder deren Nachbauten) in unserer Region nachhaltiger zu verbreiten und zu fördern. Vielleicht können Sie sich ja auch im Zusammenhang mit diesem Konzert mit der Frage beschäftigen, ob sie durch Ihren Beitritt zu unserem Verein diese Arbeit unterstützen wollen.

Ich sagte eben, ich habe das “im Prinzip“ gerne übernommen. Daraus könne Sie unschwer schließen, dass ich diese Aufgabe nicht so ganz leicht finde – warum?

Im Gegensatz zu vielen Bereichen, die im Rahmen der Koblenzer Barockkonzerte buchstäblich angeklungen sind, ist die h-Moll-Messe von Bach in unserem Musikleben ja kein Randgebiet, sondern ein anerkannter Gipfel darin. Diese anerkannte Bedeutung und vor allem die Komplexität des Werks und seiner Geschichte hat in der Vergangenheit eine Fülle von musikliterarischer und musikwissenschaftlicher Literatur hervorgebracht, die gar nicht so schnell aufgearbeitet werden kann. Viele Musikliebhaber müssen den Verkaufserfolgen zufolge eine oder mehrere Aufnahmen in ihrem Medienschrank zu Hause zur Verfügung haben, andererseits sind Aufführungen doch nicht gerade häufig, man begegnet ihr also nicht zu oft in Live-Darbietungen. (Die letzte Aufführung, an die ich mich erinnere, ist die des Neuwieder Kammerchores unter Bernd Kämpf in Neuwied) Und ich kann auch verstehen, wenn manch einem die Aneignung der Werkkenntnis über Tonträger alleine doch sehr sperrig vorkommt.


Kurzum, - ich rechne bei Ihnen mit einem extrem unterschiedlichen Fragenhorizont und mit unterschiedlichem Kenntnisstand und bitte daher schon im Voraus um Nachsicht, wenn ich nicht annähernd alle Wünsche zufrieden stellen kann. Auch haben Sie außer dem Programm hier weiter kein Material in der Hand, mit dem wir am konkreten Detail arbeiten könnten, und meine Überlegungen sollten Ihnen vor allem Impulse für das Konzert geben.

Nun bin ich aber bis zu einem gewissen Grade sogar überzeugt, dass man solche Impulse möglicherweise gar nicht braucht, um das Werk bei sich ankommen zu lassen. Wer generell für die Art der Bachischen Musik offen ist, wird sich dem Sog dieser Messe schwer entziehen können, weil sie einfach – modern gesprochen – ausdrucksstark, brillant, vielseitig und von kompositorischer Kraft ist.

Aber die Komposition kommt uns nicht nur kraft ihrer Qualität und Intensität von sich aus entgegen, sie stellt uns auch alle vor eine große Herausforderung, sie stellt Ansprüche an uns. Das gilt zunächst für die Aufführenden, die ein zeitlich recht langes Werk, dessen Spielzeit um die zwei Stunden betragen dürfte, durchzustehen haben. Alle sind sowohl technisch als auch musikalisch gefordert, nicht nur die Vokal- und Instrumentalsolisten, sondern gerade auch der Chor, dessen Anteil sehr dominant ist.


Auch wir als die Zuhörer sind hier herausgefordert. Bach hat uns mehrere Großwerke hinterlassen, man denke nur an die beiden Passionsmusiken, besonders an die nach dem Evangelisten Matthäus. Aber gerade der Vergleich mit den Passionen macht uns etwas deutlich. In diesen gibt es lange erzählende Partien, eine nachgerade dramatische Gestaltung der Erzählung durch die Verteilung auf die einzelnen Handlungsträger (Solisten und Chor), ferner die ganzen zum Evangelientext hinzu gedichteten reflektierenden Partien der Ariosi und Arien und nicht zuletzt die dem Kirchgänger vertrauten Choräle. Die Messe hingegen besteht im Grunde nur aus liturgischer Kernbsubstanz, eben dem Text des Ordinarium missae, also der Teile einer Messe, die immer zur Liturgie dazugehören.

Es gibt keine Einschübe, die musikalisch das zentral Gesagte noch einmal beleuchten oder von einer bestimmten Seite reflektieren. Das heißt vor allem, dass es keine zusätzlichen menschlichen Äußerungen gibt, weder individuelle noch kollektive in Form von eingefügten Chören oder Arien, es gibt nur den liturgischen Text selbst. Die Messe ist Musik gewordene Liturgie. Allein die Art, wie die Musik komponiert ist und aufgeführt wird, sagt uns, wie der Komponist die Liturgie auffasst und uns ohrenfällig macht.


Womit uns Bach dabei aber hilft, ist der große Abwechslungsreichtum, den man auf der musikalischen Ebene spontan wahrnimmt. In der Musik des Barock gibt es eine Tendenz, jeden musikalischen Satz mit einem bestimmenden Affekt zu versehen.

Unter Affekt verstand man im Denken der Zeit die grundsätzlichen Gemütsbewegungen, die uns Menschen erfassen können. Die europäischen Sprachen haben dafür ganz bestimmte Nomina entwickelt, wie etwa Wut, Trauer, Liebe, Demut, Hass usw. Es handelt sich also nicht um subjektive und schnell vorbeiziehende Gemütsempfindungen oder Gefühle. Es gab in der Zeit intensive Dispute um die Frage, wie viele echte Affekte es gibt, und welche Zustände Gemische aus ihnen sind. Das Wort Affekt beinhaltet ausdrücklich die seelische Bewegung, in der der Mensch sich befindet, die ihn ergreifen kann und die ihn bewegen kann. Wir kennen das in unserem Sprachgebrauch nur noch im Begriff der Affekthandlung.


Da Affekte also innere Bewegungen sind, kann die Musik sie als musikalische Bewegung darstellen. Dem Komponisten stehen dabei zunächst einmal der Takt in seinem Tempo und die rhythmische Bewegung zur Verfügung, genau so aber auch die Melodiebewegung. Welch ein Unterschied, ob eine Musik in einem schnellen tänzerischen Dreiertakt oder einem gravitätischen Schreiten oder Fließen daherkommt, welch ein Unterschied, ob sie in schnellen Notenwerten die Oktaven durchjagt oder sich in kleinen Schritten um ein Tonzentrum windet. All dies und andere musikalische Mittel mehr verdeutlichen uns die Affekte der einzelnen Sätze und erreichen so ein Ziel, das die Musik des Barock bewusst bei uns erreichen will und soll, nämlich die dargestellten Affekte in uns als Zuhörer auszulösen.

Obwohl dies, wie schon angedeutet, auch gänzlich unbewusst geschehen kann, lohnt es sich aber beim Hören, sich bewusst und aufmerksam auf dieses Geschehen einzulassen.
Dass die Gestaltung der Affekte bei Bach nicht dem Zufall oder einer Art musikalischem Instinkt überlassen bleibt, versteht sich eigentlich von selbst. Im Gegenteil! Beim genaueren Studium der Partitur wird uns immer deutlicher, wie bewusst Bach als Komponist handelt. Dies gilt z.B. für die immer wieder wechselnden Klangfarben durch die Wahl der Instrumente, aber auch für die Wahl der stilistischen Mittel in der Kompositionsweise. Hierauf müssen wir noch einmal zurückkommen.

Suchende Blicke in die Fachliteratur machen uns aber auch deutlich, wie die h-Moll-Messe auch zur Herausforderung für die Musikforschung geworden ist. Die Messe, so wie sie seit ihrem Erscheinen im öffentlichen Bewusstsein nach der Erstaufführung in Berlin aufgeführt wird, wird heute aufgefasst als eine für das Barock typische konzertierende Messe mit Chor, Soli und Instrumenten.

Die mehrstimmige rein vokale Vertonung des ordinarium missae, also der Teile Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus mit Benedictus und Agnus Dei durchzieht die Kompositionsgeschichte seit dem Mittelalter. Sie ist eine der wichtigsten und innovativsten Gattungen der Renaissance und fand einen Höhepunkt in dem von der Kirche als vorbildlich anerkannten Palestrinastil. Im Barock, dem Zeitalter des beginnenden Höhenflugs der Instrumentalmusik dringen die Instrumente, die in der Renaissance allenfalls die Chorstimmen mitspielten, also keine eigenständige Bedeutung hatten, mit immer selbständigeren Aufgaben in die Praxis hinein, durchaus in ähnlicher Vielfalt wie in der damals neu erfundenen Oper.


Formal werden die 5 Messetexte zunehmend auseinander geschnitten in Teiltexte, die als selbständige einzelne Nummern komponiert werden. Hierfür bilden sich durchaus Traditionen oder Routinen heraus, aber es gibt keine Kanonisierung dieses Systems.

In dieser Tradition ist also die h-Moll-Messe aufgefasst als eine „missa tota et concertata“. Wenn man aber nach dem eben Gesagten ins Programmheft schaut, wird man jedoch stutzig über die dort abgedruckte Einteilung des Textes in vier Teile, wie sie auch in der neuen Bach-Ausgabe vorgenommen ist. Dieser Stolperstein lässt Fragen entstehen, und mit diesen ist die Musikwissenschaft bis heute noch nicht ganz zu Ende.

Man kann das alles hier nicht ausbreiten, aber einige wesentliche Tatsachen können uns Anregungen geben. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass zu Bachs Zeit nirgendwo von einer Aufführung der h-Moll-Messe oder einem Plan dazu die Rede ist. Dies ist ungewöhnlich bei einem Komponisten, der seine Kirchmusik immer für den konkret bestimmten Gebrauch geschrieben hat. Allerdings gibt es eine von Bach hinterlassene handgeschriebene Partitur in der Anordnung und Bezeichnung der Musik, wie Sie sie im Programm finden. Die Teile stammen jedoch, wie die Forschung nachweisen kann, aus ganz unterschiedlichen Lebensabschnitten Bachs, die Seitenzahlen sind nicht durchnumeriert.


Handelt es sich um eine lose Sammlung von verschiedenen Kompositionen oder hatte Bach ein einheitliches Werk im Sinn?

Eine Notiz seines Sohnes Carl Philipp Emanuel lässt auf letzteres schließen. Die neuere Bachausgabe geht noch nicht von diesem Gedanken aus, aber viele Autoren plädieren auf Grund ihrer Analysen dafür.

Es steht fest, dass die „Missa“ genannte Komposition, also das Kyrie mit dem Gloria, eine Form ist, die an besonderen Anlässen auch in der lutherischen Kirche in Latein verwendet wurde (es gibt kleine Textabweichungen zur katholischen Messe). Bekannt ist auch, dass Bach diese zeitlich übermäßig ausgedehnte Missa 1733 nach dem Tode Augusts des Starken dem katholischen Dresdner Hof angeboten hat mit dem Ersuchen, ihm einen Kapellmeistertitel zu verleihen. Eine Aufführung um die Zeit gilt als sicher (wenn der Titel auch erst drei Jahre später kam).

Erst in den letzten Jahren vor seinem Tod hat Bach dann ohne ein Aufführungsziel die Messe endgültig vollendet, wobei die Sanctuskomposition, die schon 1724 entstanden war und aufgeführt worden war, nun wieder aufgegriffen wurde.


Der Rückgriff auf früher Geschriebenes erweist sich dabei als zentrale Methode, denn auch die meisten anderen Teile sind entstanden durch Rückgriffe auf frühere Kompositionen im sogenannten Parodieverfahren. Darunter versteht man die Neuverwendung einer Komposition für einen neuen Text, ein Verfahren, das zeittypisch ist und von Bach immer wieder angewandt wurde, um neues Repertoire für die Praxis zu schaffen. Voraussetzung ist dabei, dass der alte und der neue Text den gleichen musikalischen Affekt tragen und dass die Textdeklamation sinnvoll angepasst werden kann. Das zeigt noch einmal, dass der Affekt eine Bewegung ist, die den ganzen Satz prägt, nicht die Ausdeutung einer Einzelstelle. An der Einzelstelle wird hingegen wichtig, dass die Textdeklamation und die musikalische Deklamation zu einander passen.

Diese Parodien hat Bach sehr sorgfältig gemacht und dafür offensichtlich beispielhafte Sätze ausgewählt, deren Qualität auch nach Jahren seinen Ansprüchen noch standgehalten hat. Bei einigen hat er um der Anschlüsse willen auch in die Form eingegriffen, wenn z.B. ein Vorspiel aus einer Vorlage, die einen Eröffnungssatz darstellte, in der Messe wegen des Anschlusses an den Text vorher wegfallen konnte. Nicht bei allen Sätzen ist die Vorlage nachweisbar, es kann sich also teilweise auch um Neukompositionen handeln


Aus dieser Sicht kommt man zu dem Eindruck, dass es Bachs Absicht gewesen ist, die Summe seines kirchenmusikalischen Arbeitens und seine ästhetische Position zu dokumentieren, als wollte er sagen, dies ist der Stand des kompositorisch Möglichen. Das ergäbe eine Parallele zu anderen zyklischen Werken, die ihn zu jener Zeit beschäftigten, etwa die „Kunst der Fuge“ oder das „Musikalische Opfer“. Was hier Aufnahme gefunden hat, sind sowohl Sätze im stile antico in Anlehnung an den Palestrinastil, als auch typische barocke Fugen, wie Bach sie sein ganzes Leben geschrieben hat, und Sätze im modernen konzertierenden Stil, wie er sich im Konzert und in der Oper entwickelt hatte.

Natürlich ist bei einer Messvertonung die Singstimme immer im Vordergrund, weil sie mit dem Text automatisch die Botschaft trägt. Die Instrumente sind in unterschiedlichem Maße beteiligt. In Stücken des stile antico, z.B. dem 2. Kyrie, spielen sie nur die Chorparts mit, wie in der Renaissance üblich. Im Credo fügen sich die beiden Trompeten als gleichartige Stimmen in das Gewebe der Chorpolyphonie ein und erweitern so den fünfstimmigen Satz zu einem siebenstimmigen.

Nach dem eröffnenden Kyrieruf des tutti am Beginn der Messe sind die Instrumente zunächst selbst Träger des musikalischen Geschehens. Die hier barocke Gestaltung des Kyriethemas mit seiner musikalisch „sprechenden“ Gestalt erlaubt auch den Instrumenten, schon ohne Text etwas zu „sagen“.


Andere Nummern kennen regelrecht orchestrale Spielmusiken konzertartigen Zuschnitts, wie etwa der Beginn des Glorias. Vielfach erweitert das Orchester mit eigenen Stimmen das polyphone Geschehen im Chor, manchmal liefern die Instrumente einfach durchgängig Begleitfiguren eines einheitlichen Typs, die den Satz mit einem bestimmten Affekt grundieren, wie etwa im „Et incarnatus“. In den Arien und Soloduetten übernehmen Soloinstrumente einen eigenständigen Part, indem sie mit den Gesangsstimmen konzertieren, wie wir es auch aus den Arien der Kantaten und Passionen kennen.

Welche Möglichkeiten man sich dabei auch immer ansieht, man findet immer, dass die Aufgabe der Instrumente nicht nur in der Begleitung liegt, obwohl sie auch dies tun, sondern dass sie auch selbst sprechen. Auch die Instrumentalmusik ist hier Klangrede. Grundsätzlich ist die Komposition tendenziell polyphon, d.h. sie achtet auf die selbständige charakteristische Stimmführung aller Parts, während sie gleichzeitig auf einer unglaublich reichen Harmonik beruht, die vom Generalbass getragen wird.

 


Als das Nebeneinander von „prima prattica“ und seconda prattica“, also von erster gleich alter gleich polyphoner Praxis, wie sie aus der Renaissance kommt, und von zweiter gleich moderner gleich harmonisch gedachter modern barocker Erfindung sah sich die Musik seit Monteverdi.

Bach erlebte selbst, dass der sich verändernde Stilwille seiner Zeit das nicht mehr grundsätzlich und unbedingt mittragen wollte, wie er in seiner ästhetischen Fehde mit Scheibe, dem Schüler Gottscheds, der ihm einen verworrenen Geschmack vorwarf und die Bevorzugung einer eingängiger liedhaften Kompositionsweise mit einfacher Begleitung zur Erbauung des Gemüts forderte, erfahren hatte.

Das mag diesen Vermächtnischarakter auch erklären. Für einen historischen Augenblick wurde diese Kunst unmodern, um allerdings in veränderter Form später die Entwicklung der Musik bis ins 20. Jahrhundert immer wieder zu beeinflussen und anzuspornen.

Aber auch wenn man die h-Moll-Messe als Bachs musikalisches Vermächtnis für den Stand der Kirchenmusik ansehen würde, würde man wohl noch etwas zu kurz greifen. Bach spricht in der Kirchenmusik zu uns nicht nur als Musiker, sondern auch als theologisch gebildeter und religiöser Mensch.

Dies wird deutlich, wenn man sich eine kleine Entdeckung in Bachs handschriftlicher Partitur vornimmt. Sehen Sie dazu bitte in Ihr Programm. Im Credo hat Bach den Text in 9 einzelne Abschnitte als musikalische Nummern geteilt. Im Original seiner Partitur war dies zunächst anders und wurde dann von ihm korrigiert. Es findet sich dort ein Extrablatt mit der Nummer 5, dem Crucifixus, das in der Partitur fehlt, während dort der Crucifixustext in die Nummer 4, das „Et incarnatus“ eingearbeitet ist.

Was Bach zu dieser nachträglichen Änderung bewogen hat, mag durch das Ergebnis deutlich werden: Der Aufbau des Credo erhält jetzt eine Axialsymmetrie um das Crucifixus herum. Am Anfang und am Ende stehen je zwei Chöre, der Anfang des zweiten und des dritten Artikels des Credo ist jeweils eine Solonummer (Duett und Arie), Im Kern stehen Jesu Menschwerdung, Tod und Auferstehung, der Kreuzestod ist jetzt das absolute Zentrum der Aussage, getreu der lutherischen Auffassung.

Der gleiche Befund ergibt sich im Gloria. Wenn man dessen ersten beiden Chöre (die man auch als einen auffassen kann) mit dem Text aus Lucas als Eingang auffasst und die folgenden 7 Nummern aus dem frühchristlichen Hymnus überblickt, ergibt sich auch hier eine symmetrische Anlage, bei der das qui tollis peccata mundi (der die Sünde der Welt trägt) in der Zentralachse steht, also wiederum der Erniedrigte und Gekreuzigte.

Die Tendenz zu symmetrischem Aufbau der Sätze selbst findet sich in mehreren Nummern. Wir kennen die Analogie in der römischen Baukunst. Wir dürfen aber nicht übersehen, dass sie meist überlagert wird durch die Tendenz zu unglaublich machtvollen Steigerungen.

Auch in anderer Form gibt die Musik eine Fülle von Hinweisen auf theologische Bedeutung, auch wenn wir diese heute nicht so ohne weiteres entziffern mögen wie die Zeitgenossen, die es gewohnt waren, in solchen Symbolen zu denken. Ich werde hier nur kurz und beispielhaft Hinweise geben, da sie sich eher der nachträglichen Reflexion mit der Partitur in der Hand erschließen als der unmittelbaren Begegnung mit der Aufführung. Wer Lust hat, hier weiter zu forschen, mag Walter Blankenburgs Einführung in Bachs h-Moll-Messe lesen, die bei Bärenreiter erschienen ist. Ich habe sie auch unter anderem für meine Vorbereitungen benutzt.

Auch wenn wir das nicht alles direkt wahrnehmen: Bach hat es gezielt in sein Werk hineinkomponiert und damit als für ihn wichtiges Zeichen hinterlassen.

Ein Beispiel: Wenn Bach Kernstellen über Jesus zweimal als Duett komponiert, so gibt ihm das durch die Art der Stimmführung dieser beiden Solostimmen, die Gelegenheit, Jesus als das zweite Glied der Trinität als Gott gleich und doch verschieden darzustellen, indem die beiden Singstimmen abwechselnd parallel oder im Kanon singen.

Solche Hinweise finden sich vielfach. Musikalische Figuren haben theologische Bedeutung, so der aufsteigende Dur-Dreiklang als die Erhöhung Gottes und der absteigende Moll-Dreiklang als die Erniedrigung Gottes. Die Oktave, die im Barock noch Diapason heißt, also durch das Ganze, wird zum Symbol für die Vollkommenheit Gottes. Zahlensymbolik wird von den Zeitgenossen verstanden, so der Dreiertakt ebenfalls als Hinweis auf die Trinität. Auch die Wahl einiger Instrumente hat solche Bedeutung. Die Parts der Blechbläser, wie sie Bach so beileibe nicht immer zur Verfügung standen, symbolisieren den himmlischen Glanz.

Wenn uns heute der Verdacht kommt, diese Deutungen könnte überzogen sein, so müssen wir uns klar machen, dass die Forscher diese Deutungen durch Hinweise aus der Zeit gefunden haben und ebenso durch ihre statistisch relevante Verwendung in vergleichbaren Stellen in Bachs Werk. Wir hören das so einfach heute nicht, aber wir sollten wissen, dass Bach es so gemeint hat.

Genug über die Herausforderungen, vor die die h-Moll-Messe uns als Hörer stellt. Verzeihen Sie mir, wenn es mir nicht gelungen ist, mehr zu kürzen. Aber Reichtum will auch erarbeitet sein. Auch Bachs Zeit kennt unter den Musikhörern den Liebhaber und den Kenner. Mit letzterem Begriff ist ein Mensch gemeint, der sich die Mühe macht, sich in die Geheimnisse eines Werks zu vertiefen, wohl wissend, dass man nicht alles auf einmal erwirbt, aber immer wieder ein Stück weiterkommen kann. Das Wichtigste ist allemal der überwältigende Eindruck der Musik.

 

Lassen Sie mich nur noch einmal die Ausführenden selbst bedenken: Wir hören das Werk gleich auf historischen Instrumenten, also solchen, wie sie zu Bachs Zeit verwendet wurden.

Das erklärt einschließlich der Spielweise die Verschiedenheit des Klangs von dem eines modernen Instrumentariums. Er ist vielleicht weniger brillant und füllig, dafür artikulierter und obertonreicher, also auch farbiger. Manche dieser Instrumente, vor allem die Blechsoli sind extrem schwierig zu spielen, sodass gerade diese Partien nicht von vielen Musikern gespielt werden können. Auch dies ist ein Teil des Reichtums, mit dem wir beschenkt werden.

Ich wünsche Ihnen ein reichhaltiges Hören und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

 



 

Eberhard Neumann (2006)