Details

Beitragsseiten

Was ist „Alte Musik“ ?

Einige Gedanken zu einem so einfach wirkenden Begriff

Natürlich kann man die alte Musik in ganz direkter Weise spontan erleben und genießen und sehr oft ist dies nicht der schlechteste Weg. Es gibt für viele Menschen die Faszination durch diese Klangwelten und die Art der Musik. Es gibt bei manchen Hörern aber auch Irritationen und den Eindruck von Fremdheit, was zu spontaner Ablehnung führen kann. Da wir als Vorstand mit dem Wunsch auch nach Information und Diskussionsgrundlage angesprochen wurden, sollen in unserem Rundbrief immer wieder auch Texte erscheinen, die Denk- und Wahrnehmungsanstöße zu geben versuchen. Das ist nicht ganz einfach bei unterschiedlich mit der Sache befassten Lesern. Die Fachleute mögen daher oft nichts Neues finden, sie finden ihre spezielleren und präziseren Informationen in der Fachliteratur. Der folgende Text ist eher als der Versuch einer Vermittlung zwischen der Fachwelt und dem interessierten Laien gedacht. Die Anstöße zur Wahrnehmung und zum Nachdenken sollen das Hören und Erleben der Musik nicht ersetzen. Sie sollen es auch nicht überlagern. Aber vielleicht gelingt es, die Erfahrung zu vermitteln, dass eine vertiefte Beschäftigung mit der Materie ein spannendes und anregendes Abenteuer sein kann, in dem man mit ästhetischen Erfahrungen belohnt wird.



Der Terminus „Alte Musik“ ist auf eine trügerische Weise einleuchtend: ohne erkennbare Problematik in seiner Klarheit, mit der das Adjektiv „alt“ – eine einfache Zeitbestimmung - dem Nomen „Musik“ beigesellt ist, als sei damit etwas Präzises gesagt.

Das erkennt man spätestens, wenn man den Gegenbegriff „Neue Musik“ zu Rate zieht. Das Kuriose ist, dass diese „Neue Musik“ ja nun ihrerseits fast 100 Jahre alt ist. Dementsprechend ist die Musik davor, also auch die „klassische“, noch älter. Aber im Bewusstsein ihrer Hörer gilt gerade diese „klassische“ Musik dennoch nicht als „alt“. Was macht also dann alte Musik zur „Alten Musik“?

Dass der Begriff, wie sich zeigt, so unscharf ist, wird sich noch als Vorteil erweisen, denn er erlaubt viel Freiheit der Definition und viel Entwicklung in der inhaltlichen Ausfüllung – und doch sind dabei einige Konstanten aufzuspüren.

Die größte deutsche Musikenzyklopädie - die MGG (Musik in Geschichte und Gegenwart) - kennt auch in ihrer neusten Auflage keinen Artikel mit der Bezeichnung „Alte Musik“, was sicher damit zu tun hat, dass es sich nicht um einen wissenschaftlich definierten Begriff handelt, - dafür sind die Umrisse zu ungenau - sondern um einen Begriff der ungefähren Orientierung im musikalischen Alltag. Man findet in der MGG aber klärende Hinweise in anderen Artikeln, wie etwa in denen über „Aufführungspraxis“ und „Historismus“.


Dass „Alte Musik“ und „Neue Musik“ nicht oder nur teilweise von der jeweiligen Kompositionsweise her definierbar sind, sondern sich letztlich auch als Ergebnis der Rezeption, der Kunstwahrnehmung erweisen, ist ein Tatbestand, auf den der Musikhistoriker Hans Heinrich Eggebrecht in seinem Buch „Musik im Abendland“ aufmerksam macht. Dort stellt er fest, dass es im Bewusstsein der Musikliebhaber – und damit meint er die, die sich mit der musikalischen „Hochkultur“ identifizieren – eine „eigentliche“ Kunstmusik gibt, die in der Tradition der bürgerlichen Musikkultur steht, und davor eine „alte“, sowie danach eine „neue“, die irgendwie nicht dazugehören. Diese „eigentliche“ Musik hat im Bewusstsein der Konzertbesucher ein gewisses Repertoire, in dem bestimmte Werke immer und immer wiederholt werden. Diese Repertoire der „eigentlichen“ Kunstmusik, vorwiegend Musik der „Wiener Klassik“, des 19. und des Anfangs des 20 Jahrhunderts hat in unserem Koblenzer Musikleben vor allem seinen Platz in den Kammerkonzerten des Vereins der Musikfreunde und in den Konzerten des Musikinstituts, deren verdienstvoller Einsatz für diese Musik schon eine lange Tradition hat. Die oben erwähnte Unschärfe in den Begriffen zeigt sich unter anderem auch darin, dass Musik, die älter ist als die „Wiener Klassik“ – beispielsweise Orchesterwerke von Bach und Händel oder „Frühklassisches“ – oder auch Werke der Moderne des 20 Jahrhunderts in diesem („eigentlichen“) Repertoire immer wieder auftauchen. Es zeigt sich damit, wie solche Abgrenzungen sich immer wieder verschieben.

In der Wahrnehmung des Publikums ist „Alte Musik“ und „Neue Musik“ eben etwas anderes. Das andere der „Neuen“ Musik muss hier nicht diskutiert werden. Das (wie heute vereinfachend gesagt wird) „klassische“ Repertoire, das mit der eigentlich so im engeren Sinn einmal definierten klassischen Musik der Wiener Komponisten Haydn und Mozart begann, ist von einer geschichtlichen Besonderheit geprägt: Diese Musik ist im Prinzip seit ihrer Entstehung immer im Repertoire, auch wenn sich da die Vorstellungen und Gewichte immer mal verschieben (so wurde z.B. Haydn zeitweise unterschätzt und abgewertet und inzwischen wieder neu gewichtet).

Genau dies – dass sie eben nicht immer im Repertoire war, sondern neu entdeckt und für das Repertoire wieder zugänglich gemacht werden musste - unterscheidet davon die „Alte Musik“.

 

Natürlich gab es auch in früheren Zeiten ein Bewusstsein davon, dass es alte Meister gab, die für die Musik von großer Bedeutung waren. Aber in der musikalischen Praxis ging es zunächst einmal darum, dass neue, aktuelle Musik aufgeführt wird. Natürlich gab es Kenner, die etwa von der Größe Bachs und besonders Händels wussten, aber diese Musik war nicht Repertoire. Und als Mozart sich zu einer Aufführung des Messias entschloss, arbeitete er das Werk im Sinne der Musik seiner Zeit um, veränderte etwa das Klangbild im Sinne seiner sinfonischen Orchesterbesetzung und macht quasi neue Musik aus der alten, damit sie aktuell wird.
 
Die Aufführung barocker Musik hat also in der klassischen Zeit keine „Tradition“. Es musste somit später der bewusste Griff in die Historie unternommen werden. Für diese Wiederanknüpfung an etwas, das keine Tradition hat, verwenden Historiker heute das Wort „Historismus“(s. MGG). Dieser Prozess begann schon im 19. Jahrhundert. Das markanteste Beispiel ist die Wiederaufführung der Mathäus-Passion von Bach durch Mendelssohn, übrigens auch in einer Bearbeitung des Klangbildes. Ähnlich ging es mit Händel.

Hier kann und soll nun kein geschichtlicher Überblick der Entwicklung der Pflege der „Alten Musik“ versucht werden, denn dies ist inzwischen ein äußerst umfangreiches, sehr verzweigtes und differenziertes Geschehen, das nun auch schon wieder seine eigene Geschichte hat. Es ist aber interessant, einige Aspekte der Entwicklung anzusprechen, um auf die Dinge hinzuweisen, die heute die Diskussion prägen.


Ein Aspekt ist die Repertoire-Erweiterung. Ausgehend vom Interesse an den überlieferten Namen Bach und Händel in Deutschland wurden immer mehr Komponisten des Barock ausgegraben, wobei die Entwicklung vom Spätbarock aus immer weiter zurück ging in die Geschichte. Zunehmend wurden aber auch die anderen fast vergessenen Epochen wieder entdeckt und aufgeführt. Diese Entwicklung beschleunigt sich bis heute. Eine Rolle spielt dabei sicher die Verbreitung der Musik über Tonträger und Rundfunk, die beide alles sofort in jede Wohnung tragen können.

Die Erweiterung des Repertoires erfolgt sogar für die Zeiträume der klassischen Musik. War diese früher mit den Namen Haydn, Mozart und Beethoven scheinbar klar definiert, so werden auch Zeitgenossen dieser drei immer mehr aufgeführt.

Ein zweiter Aspekt ist das Instrumentarium. Wie Mozarts und Mendelssohns Aufführungen noch erkennen lassen, wurden zunächst die alten Kompositionen in neuen Klang „übersetzt“. Schon vor 1900 keimte indes der Gedanke, dass die Aufführung dieser Musik sich orientieren müsste an den originalen Instrumenten, weil man sonst den ursprünglichen Klangeindruck nicht hat. Jede Epoche hat andere Klangideale, selbst der Stimmton wechselte immer und tut es noch heute. Nun waren alte erhaltene Instrumente in den meisten Fällen nicht mehr spielbar. Andere waren in ihrer Form im Lauf der Geschichte so entwickelt worden, dass ihr Klang dem früheren kaum noch ähnelte. Im Fall der Streichinstrumente gab es seit 1800 nicht nur Instrumente in neuer Bauweise, vielmehr waren auch die alten umgebaut worden (es gibt z.B. heute keine Originalstradivari mehr im Einsatz: aus Barockgeigen wurden moderne). Wiederum andere Instrumente waren ganz verschwunden, was zu nachgerade kriminalistischer Aktivität reizte. Ein ausgesprochen spannendes Beispiel ist etwa die Wiederentdeckung der bei Bach vorkommenden Oboe da caccia durch Harnoncourt (beschrieben in „Der musikalische Dialog“).
 

Auch in diesem Bereich wurde allmählich aus Zufallserkenntnissen ein wissenschaftlicher Forschungsbereich, der zusammenwirken musste mit kreativem Instrumentenbau: Erst wenn ein Instrumentenmacher in Restaurationen (was oft nicht mehr geht) oder genauem Nachbau die gefundenen Erkenntnisse zum Klingen bringt, kann eine Klangvorstellung entstehen. Das verlangt sehr viel Einfühlungsvermögen. Der Kölner Geigenbauer Michael Pilger: „Es reicht nicht, die genauen Maße einer Stradivari auf ein Stück Holz zu übertragen. Jedes Holz ist anders und ich muss mich fragen, was Stradivari wohl nach seiner Denkweise mit diesem Holz gemacht hätte.“

Der Umgang mit dem solcherart gewonnenen Instrumentarium macht ganz schnell deutlich, dass auch die Spielweise anders sein muss. Alte Violinbögen leisten z.B. etwas ganz anderes als moderne. Auch hier werden die praktische Erfahrung und exakte Studium der Quellen notwendigerweise zu Partnern.

Dies führt ohne abrupten Übergang zu einem dritten Aspekt, der Auseinandersetzung mit der „historischen Aufführungspraxis“. Die Auseinandersetzung mit den Quellen, die in allen Bereichen in den letzten 50 Jahren nachgerade explodierte, hat zunehmend bewusst gemacht, dass es selbst bei genauer Beherrschung des Instrumentariums nicht reicht, einfach in der gewohnten Weise die neu auf dem Pult liegenden Noten zu spielen.

Noten drücken nur bis zu einem gewissen Grade aus, wie das Erklingende gemeint ist. Immer setzt die Aufführung voraus, dass ein Spieler die Art und Weise der Musik kennt. Das gilt bis heute. Wer etwa die spezifische Art und Weise nicht kennt, wie eine Folge gleich aussehender Achtelnoten im Swing gespielt wird, wird nie etwas herausbekommen, was wie Swing klingt. Der Vergleich mit Laut in der Sprache und Buchstabe liegt nahe: Nur wer die deutsche Sprache aus Erfahrung kennt, weiß, wie die beiden E-Laute in einem Wort wie „Ehre“ oder „Leben“ sich unterscheiden. Und nur wenn diese Kenntnisse umgesetzt werden können, klingt deutsche Sprache echt.


Das Problem der Aufführungspraxis hat sehr differenzierte Facetten. Neben der Tonbildung sei noch der Bereich des „richtigen“ Tempos erwähnt. Wir kennen als Maß für das Tempo seit Beethovens Zeit das von diesem empfohlene Metronom, das es im Barock noch nicht gab. Man kann dort genau eingeben, wie viele Taktschläge pro Minute erklingen sollen. Auf vielen Geräten findet man dort auch eine Skala, die angibt, in welchen Bereichen sich etwa eine Tempobezeichnung wie Adagio bewegt. Dabei ist es absolut unhistorisch, etwas wie den Begriff Adagio für alle Musik einheitlich festzulegen. Ein Adagio bei Corelli ist etwas ganz anderes als ein Adagio bei Bruckner.

Das hängt damit zusammen, dass alle diese Begriffe, die auf dem Metronom als Tempobegriffe erscheinen, im Barock als Begriffe für Affekte gedacht sind. Und zum Erreichen eines bestimmten Affekts ist das „richtige“ Tempo nur eines der Mittel. Außerdem zeigt es sich, dass Begriffe im Laufe der Geschichte immer ihre Bedeutung verändern.

Zu den Fragen der Aufführungspraxis gehören noch viele andere Einzelheiten, wie etwa Fragen der Verzierungskunst und dergleichen.

Als letzter Aspekt sei die Auseinandersetzung mit der Musikauffassung einer Zeit genannt. Jede Kultur, jede Gesellschaft und jede Zeit kann eine ganz eigene Auffassung von dem entwickeln, was die Aufgabe der Musik für das menschliche Leben ist und welche musikalischen Mittel ihr dabei wichtig sind in Komposition und Ausführung. Dazu gehört natürlich auch wieder das Klangbild, das Tonsystem, das System, in dem gestimmt wird usw. Dies kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Aber es dürfte einleuchtend sein, dass das Einnehmen anderer Perspektiven dazu führen wird, dass man eine Musik anders spielt oder anders versteht.


In Klammer: Eine nicht unwichtige Erscheinung ist in dem Zusammenhang, dass die Wiederentdeckung gerade auch des frühen Barock und der Musik der Renaissance die Geschichte der Komposition der „Neuen Musik“ in ihrer Anfangszeit und bis heute beeinflusst hat, indem sich Komponisten aus dieser alten Musik Ideen für die Entwicklung ihrer Art von neuer Musik geholt haben, als frühes Beispiel sei hier nur Hindemith erwähnt.

Wenn man von „Alter Musik“ im Sinne der Gründung unseres Vereines spricht, so ist eine Musikpraxis gemeint, der die genannten Aspekte wichtig sind, wobei die Gewichtung unterschiedlich bleiben mag. In den letzten 50 Jahren hat sich aus den Versuchen der ersten Pioniere eine große künstlerische Szene entwickelt, die sich schon sehr auseinander differenziert und zu ganz unterschiedlichen Traditionen geführt hat. Sie wird neben dem traditionellen Konzertleben immer noch als eigener Bereich verstanden bis hin zu ihren Festivals.

Ob das immer so bleiben wird, muss sich entscheiden. Längst zeigt sich auch, dass die verschiedenen Bereiche sich beeinflussen. Auch ein modernes Orchester wird in den meisten Fällen Bach nicht mehr so spielen wie vor 50 Jahren. Viele Musiker sind auf mehreren Gebieten zu Hause und bringen dann die jeweiligen Erfahrungen mit.

Die Positionen des pro und contra in der ästhetischen Auseinandersetzung könnten ein anderes Mal Gegenstand von Überlegungen sein.

 



 

Eberhard Neumann

   
© 2008-2021 ALTE MUSIK AM MITTELRHEIN E.V.
Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.