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Als das Nebeneinander von „prima prattica“ und seconda prattica“, also von erster gleich alter gleich polyphoner Praxis, wie sie aus der Renaissance kommt, und von zweiter gleich moderner gleich harmonisch gedachter modern barocker Erfindung sah sich die Musik seit Monteverdi.

Bach erlebte selbst, dass der sich verändernde Stilwille seiner Zeit das nicht mehr grundsätzlich und unbedingt mittragen wollte, wie er in seiner ästhetischen Fehde mit Scheibe, dem Schüler Gottscheds, der ihm einen verworrenen Geschmack vorwarf und die Bevorzugung einer eingängiger liedhaften Kompositionsweise mit einfacher Begleitung zur Erbauung des Gemüts forderte, erfahren hatte.

Das mag diesen Vermächtnischarakter auch erklären. Für einen historischen Augenblick wurde diese Kunst unmodern, um allerdings in veränderter Form später die Entwicklung der Musik bis ins 20. Jahrhundert immer wieder zu beeinflussen und anzuspornen.

Aber auch wenn man die h-Moll-Messe als Bachs musikalisches Vermächtnis für den Stand der Kirchenmusik ansehen würde, würde man wohl noch etwas zu kurz greifen. Bach spricht in der Kirchenmusik zu uns nicht nur als Musiker, sondern auch als theologisch gebildeter und religiöser Mensch.

Dies wird deutlich, wenn man sich eine kleine Entdeckung in Bachs handschriftlicher Partitur vornimmt. Sehen Sie dazu bitte in Ihr Programm. Im Credo hat Bach den Text in 9 einzelne Abschnitte als musikalische Nummern geteilt. Im Original seiner Partitur war dies zunächst anders und wurde dann von ihm korrigiert. Es findet sich dort ein Extrablatt mit der Nummer 5, dem Crucifixus, das in der Partitur fehlt, während dort der Crucifixustext in die Nummer 4, das „Et incarnatus“ eingearbeitet ist.

Was Bach zu dieser nachträglichen Änderung bewogen hat, mag durch das Ergebnis deutlich werden: Der Aufbau des Credo erhält jetzt eine Axialsymmetrie um das Crucifixus herum. Am Anfang und am Ende stehen je zwei Chöre, der Anfang des zweiten und des dritten Artikels des Credo ist jeweils eine Solonummer (Duett und Arie), Im Kern stehen Jesu Menschwerdung, Tod und Auferstehung, der Kreuzestod ist jetzt das absolute Zentrum der Aussage, getreu der lutherischen Auffassung.

Der gleiche Befund ergibt sich im Gloria. Wenn man dessen ersten beiden Chöre (die man auch als einen auffassen kann) mit dem Text aus Lucas als Eingang auffasst und die folgenden 7 Nummern aus dem frühchristlichen Hymnus überblickt, ergibt sich auch hier eine symmetrische Anlage, bei der das qui tollis peccata mundi (der die Sünde der Welt trägt) in der Zentralachse steht, also wiederum der Erniedrigte und Gekreuzigte.

Die Tendenz zu symmetrischem Aufbau der Sätze selbst findet sich in mehreren Nummern. Wir kennen die Analogie in der römischen Baukunst. Wir dürfen aber nicht übersehen, dass sie meist überlagert wird durch die Tendenz zu unglaublich machtvollen Steigerungen.

Auch in anderer Form gibt die Musik eine Fülle von Hinweisen auf theologische Bedeutung, auch wenn wir diese heute nicht so ohne weiteres entziffern mögen wie die Zeitgenossen, die es gewohnt waren, in solchen Symbolen zu denken. Ich werde hier nur kurz und beispielhaft Hinweise geben, da sie sich eher der nachträglichen Reflexion mit der Partitur in der Hand erschließen als der unmittelbaren Begegnung mit der Aufführung. Wer Lust hat, hier weiter zu forschen, mag Walter Blankenburgs Einführung in Bachs h-Moll-Messe lesen, die bei Bärenreiter erschienen ist. Ich habe sie auch unter anderem für meine Vorbereitungen benutzt.

Auch wenn wir das nicht alles direkt wahrnehmen: Bach hat es gezielt in sein Werk hineinkomponiert und damit als für ihn wichtiges Zeichen hinterlassen.

Ein Beispiel: Wenn Bach Kernstellen über Jesus zweimal als Duett komponiert, so gibt ihm das durch die Art der Stimmführung dieser beiden Solostimmen, die Gelegenheit, Jesus als das zweite Glied der Trinität als Gott gleich und doch verschieden darzustellen, indem die beiden Singstimmen abwechselnd parallel oder im Kanon singen.

Solche Hinweise finden sich vielfach. Musikalische Figuren haben theologische Bedeutung, so der aufsteigende Dur-Dreiklang als die Erhöhung Gottes und der absteigende Moll-Dreiklang als die Erniedrigung Gottes. Die Oktave, die im Barock noch Diapason heißt, also durch das Ganze, wird zum Symbol für die Vollkommenheit Gottes. Zahlensymbolik wird von den Zeitgenossen verstanden, so der Dreiertakt ebenfalls als Hinweis auf die Trinität. Auch die Wahl einiger Instrumente hat solche Bedeutung. Die Parts der Blechbläser, wie sie Bach so beileibe nicht immer zur Verfügung standen, symbolisieren den himmlischen Glanz.

Wenn uns heute der Verdacht kommt, diese Deutungen könnte überzogen sein, so müssen wir uns klar machen, dass die Forscher diese Deutungen durch Hinweise aus der Zeit gefunden haben und ebenso durch ihre statistisch relevante Verwendung in vergleichbaren Stellen in Bachs Werk. Wir hören das so einfach heute nicht, aber wir sollten wissen, dass Bach es so gemeint hat.

Genug über die Herausforderungen, vor die die h-Moll-Messe uns als Hörer stellt. Verzeihen Sie mir, wenn es mir nicht gelungen ist, mehr zu kürzen. Aber Reichtum will auch erarbeitet sein. Auch Bachs Zeit kennt unter den Musikhörern den Liebhaber und den Kenner. Mit letzterem Begriff ist ein Mensch gemeint, der sich die Mühe macht, sich in die Geheimnisse eines Werks zu vertiefen, wohl wissend, dass man nicht alles auf einmal erwirbt, aber immer wieder ein Stück weiterkommen kann. Das Wichtigste ist allemal der überwältigende Eindruck der Musik.

 

Lassen Sie mich nur noch einmal die Ausführenden selbst bedenken: Wir hören das Werk gleich auf historischen Instrumenten, also solchen, wie sie zu Bachs Zeit verwendet wurden.

Das erklärt einschließlich der Spielweise die Verschiedenheit des Klangs von dem eines modernen Instrumentariums. Er ist vielleicht weniger brillant und füllig, dafür artikulierter und obertonreicher, also auch farbiger. Manche dieser Instrumente, vor allem die Blechsoli sind extrem schwierig zu spielen, sodass gerade diese Partien nicht von vielen Musikern gespielt werden können. Auch dies ist ein Teil des Reichtums, mit dem wir beschenkt werden.

Ich wünsche Ihnen ein reichhaltiges Hören und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

 



 

Eberhard Neumann (2006)

   
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